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Ausgabe 3/01   Seite 24ff

Die Planung der neuen US-Regierung unter George Bush jr. zum Bau einer nationalen Raketenabwehr (National Missile Defence - NMD), stößt nicht nur bei den europäischen Verbündeten, sondern auch und vor allem bei der russischen Regierung auf massiven Widerspruch. Russland sieht in den Raketenabwehrplänen der Amerikaner die Gefahr einer Aushöhlung der Rüstungskontrolle und die eines neuen, weltweiten Wettrüstens. Die US-Administration verfolge mit der Absicht eines Aufbaus von MND unter anderem, Russland nun auch militärisch seinen Status als Weltmacht zu nehmen, der sich nur noch auf sein atomares Potential gründet. Der Aufbau von NMD würde den zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion 1972 ausgehandelten ABM-Vertrag unterlaufen, da mit einem solchen System auch ein Angriff mit russischen Interkontinentalraketen abgewehrt werden soll. Das "strategische Gleichgewicht" würde sich folglich zu Ungunsten Russlands verändern, da die USA dann über eine Erstschlagsfähigkeit verfügen würden. Wegen dieser Perspektiven steigerte die russische Seite in den letzten Wochen ihre diplomatischen Aktivitäten, besonders mit dem Vorschlag zum Aufbau eines europäischen Raketenabwehrsystems (EuroABM), um NMD doch noch zu verhindern.

Thomas Busch

Russland und Amerikas National Missile Defence

Der ABM-Vertrag und Russlands Status

Voraussetzung für den Bau von NMD durch die neue amerikanische Regierung ist die Aufkündigung oder wenigstens die Modifikation des amerikanisch-sowjetischen ABM-Vertrages von 1972. Der Anti-Ballistic-Missile-Treaty begrenzte die Stationierung auf jeweils ein bodengestütztes Raketenabwehrsystems mit hundert Raketen und schrieb dadurch eine gegenseitige Abschreckung durch die Gefahr eines wechselseitigen atomaren Gegenschlags als strategische Doktrin fest. Entwicklung, Tests und Einsatz von see-, luft-, weltraum-, oder mobilen Landsystemen wurden verboten. Dieses, vor fast dreißig Jahren festgeschriebene militärische Patt, wird vermutlich nicht mehr lange Bestand haben, weil es die gegenwärtigen amerikanischen Pläne für NMD behindert.

Wegen der hypothetischen Gefahr eines Raketenangriffs durch ein drittes Land, den von den USA so bezeichneten "states of concern" und der angeblichen historischen Überholtheit des ABM-Vertrages, - obwohl Russland der eindeutige Rechtsnachfolger der Sowjetunion ist -, zeigen sich die USA entschlossen, ihr NMD-Programm zu verwirklichen. Dieses Programm, dass noch aus der Clinton-Administration stammt und auf Plänen zu SDI aus der Reagenzeit beruht, kostet, laut Schätzungen, 60 bis 240 Milliarden Dollar. Ungeklärt ist auch weiterhin die Machbarkeit eines solchen Systems, da bisherige Testversuche scheiterten.(1)

Die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen, vor allem die eventuelle Fähigkeit von militärischen "Schwellenländern" wie Libyen, Irak, Iran oder Nordkorea, mit Interkontinentalraketen zukünftig amerikanisches Territorium zu beschießen, mache die Entwicklung eines NMD-Systems unbedingt notwendig. Donald Rumsfeld, neuer Verteidigungsminister im Kabinett Bush jr., sieht sogar eine moralische Verpflichtung des amerikanischen Präsidenten darin, sein Volk durch NMD vor existierenden Gefahren zu schützen. Hieraus folgert er überraschender Weise, dass damit NMD einem US-Isolationismus vorbeugen würde, da die USA, weniger verletzbar, ihren Alliierten in Krisen besser beistehen könnten.(2) Rumsfeld erhebt seinerseits Vorwürfe, Rußland unterlaufe das Abkommen der Nichtverbreitung von Atom- und Raketentechnologie in die "Dritte Welt" (Missile Technology Control Regime - MTCR).(3)

Wichtigstes Motiv für den Bau eines MND scheint jedoch die Festschreibung der US- amerikanischen Hegemonie auf militärischem Gebiet zu sein, welches durch den ABM-Vertrag und die Möglichkeit eines atomaren Gegenschlags Russlands zur Zeit formal noch "ausgeglichen" wird. Die Aufkündigung des ABM-Vertrages und die Unmöglichkeit der russischen Regierung, vergleichbar große finanzielle Mittel für den Bau einer eigenen, strategischen Raketenabwehr aufzubringen, würden auf absehbare Zeit dafür sorgen, dass den USA kein militärischer Konkurrent erwachsen könnte.

Die Politik des Weißen Hauses gegenüber dem Kreml stößt auch im westlichen Lager auf Kritik. Allgemein sieht man die Notwendigkeit, mit Russland zu kooperieren und es bestehe, so der britische Generalstabschef General Sir Charles Guthrie, durchaus die Gefahr, dass diese US-Politik einen kriegerischen Nationalismus in Russland provozieren könnte.(4) Der Wegfall des Weltmachtstatus, auch auf militärischem Gebiet, würde in dem krisengeschüttelten Land denjenigen Kräften Auftrieb verleihen, die nicht mehr auf eine Zusammenarbeit mit dem Westen setzen. Die resultierenden Unwägbarkeiten für die internationale Gemeinschaft, zieht man die Position Moskaus als Rüstungsexporteur oder seine Stellung in der UNO in Betracht, wären beträchtlich.

Russland auf diplomatischem Parkett

Die russische Regierung verstärkte in den letzten Wochen ihre Anstrengungen, die Verwirklichung des amerikanischen NMD-Projekts doch noch zu verhindern zu. Auf der einen Seite wurde versucht, den Dialog mit den USA nicht abbrechen zu lassen, andererseits schlug man den Europäern vor, ein gemeinsames Abwehrsystem zu entwickeln, um sich so die Spannungen im transatlantischen Verhältnis in Bezug auf NMD zu Nutze zu machen. Diese Schaukelpolitik aus einer Position der Schwäche heraus wird zwar nicht den Bau der NMD verhindern können, zeigt aber deutlich, wie stark Moskau seine Interessen hierdurch bedroht sieht.

Diplomatisch versucht Moskau, dem potentiellen Bruch des ABM-Vertrages durch die Bush-Administration eine weltpolitische Dimension zu geben, indem es auf die Gefahr eines erneuten weltweiten Wettrüstens verweist. Auch unterstreicht Russland, dass man auf hypothetische Raketenangriffe durch "states of concern" auch mit anderen Maßnahmen der Luftverteidigung reagieren könnte, dass also eine Neutralisierung solcher Gefahren durch politisch-diplomatische Anstrengungen besser gewährleistet wäre. Dies entspricht auch der Ansicht von anderen Experten, wie dem früheren Vorsitzenden des nationalen US-Sicherheitsrates Samuel Berger. So schrieb dieser in der Washington Post, dass die Bedrohung Amerikas durch Terrorismus zwar zugenommen hätte, dass diese aber eher von Einzelpersonen als von Staaten ausgehe und dass vor diesem Hintergrund die Effektivität von NMD sehr fraglich sein wird.(5)

Wenn der ABM-Vertrag bestehen bliebe, so der russische Außenminister Sergej Ivanov, sei Russland bereit, das Arsenal der strategischen Offensivwaffen auf 1.500 oder weniger bei den Verhandlungen über START 3 herunterzufahren.(6) Dieser Vorschlag soll jedoch nur zeigen, dass Präsident Vladimir Putin diplomatisch reagiert, da sein Land nicht mehr in der Lage ist, sein bisheriges atomares Arsenal zu unterhalten. Auch Washington plane, wie der British American Security Information Council (BASIC) meldete, mit dem Aufbau von NMD eine unilaterale Verringerung des Arsenals der strategischen Nuklearwaffen, das dann im aktuellen Umfang nicht mehr gebraucht würde.(7)

Euro-ABM als Ausweg?

Weil der Kreml seine schwache Position auf diplomatischem Parkett genau einzuschätzen weiß, versucht er, mit dem Vorschlag eines europäisch-russischen Raketenabwehrsystems, Spannungen im euro-amerikanischen Verhältnis auszunutzen. Die europäischen Partner der USA, besonders die kontinentaleuropäischen Länder, befürchten, dass sich mit dem Aufbau von NMD innerhalb der Nato "Zonen unterschiedlicher Sicherheit" herausbilden. Sollte ein Nato-Staat nämlich in der Lage sein, sich ein eigenes Raketenabwehrsystem zu errichten, würden unweigerlich verschiedene "Zonen der Sicherheit vor Bedrohung" durch feindlichen Raketenbeschuss entstehen. Es könne somit der Zusammenhalt der NATO in Frage gestellt werden, der für alle Mitglieder gleiche Sicherheitsrisiken vorsieht.

Trotz dieser Befürchtungen bröckelt mittlerweile der Widerstand der Europäer. So ließ Bundeskanzler Gerhard Schröder verlautbaren, dass eine deutsche Beteiligung an NMD in Erwägung gezogen werden muss, um die Sicherheit vor Raketenangriffen zu gewährleisten und den Anschluss an die technische Entwicklung nicht zu versäumen.(8) Auch seien sich die Europäer bewusst, dass sie einem kategorischen Willen der USA NMD zu bauen, wenig entgegen zu setzen haben, da sie nach wie vor in der NATO von amerikanischen Sicherheitsgarantien abhängig seien.

Aus all diesen Gründen muss der Vorschlag Präsident Putins zur Planung eines Euro-ABM überraschen. Der russische Verteidigungsminister Sergejew überreichte am 20. Februar 2001 dem Nato-Generalsekretär George Robertson ein Konzept zur Entwicklung eines mobilen, gesamteuropäischen Raketenabwehrsystems gegen nukleare Bedrohungen, das auf einen früheren Vorschlag Putins zurückgeht. Die Mitwirkung an diesem nichtstrategischen Abwehrsystem, einsetzbar gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen, soll allen Staaten Europas offen stehen. Die Grundlagen der strategischen Stabilität in der Welt würden durch dieses Projekt nicht in Frage gestellt.(9) Der explizite Verweis auf das nichtstrategische Moment der geplanten Abwehr ist natürlich dem Kontrast zur amerikanischen Strategie geschuldet, da Russlands Hauptinteresse sich auf den Erhalt des ABM-Vertrages richtet.

Gemäß dem russischen Vorschlag soll sich die gesamteuropäische Zusammenarbeit auf drei Schwerpunkte aufgliedern:

Es wird betont, dass es sich bei Euro-ABM um eine nichtstrategische Abwehr handelt, und das bei der Auswahl von Raketensystemen nur solche für ein Euro-ABM in Frage kämen, die "bezüglich ihrer Möglichkeiten zur Bekämpfung strategischer Raketen den Wert null haben.".(10) Dass Russland über einen angeblichen Vorsprung in der Entwicklung und Erprobung von Abwehrsystemen verfügt, der in Euro-ABM eingebracht werden könnte, wird mehrmals betont. Vermutlich soll dies darüber hinwegtäuschen, dass bei einem hypothetischen Zustandekommen des Euro-ABM die Kosten, zieht man den Verteidigungshaushalt Russlands von rund 6 Milliarden Dollar in Betracht,(11) hierzu weitgehend von den Europäern getragen werden müssten. Andererseits wäre es dann möglich, von der entwickelteren russischen Technologie, etwa in Form der Raketenabwehrsysteme S-300, S-300V, Antei 2500 oder Tor und Buk-M1, zu profitieren. Dem Versuch, sich Spannungen innerhalb der NATO zu Nutze zu machen, wurde aber von Robertson und dem deutschen Außenminister Josef Fischer eine Absage erteilt.(12) Die westeuropäischen Regierungen werden zwar weiterhin daran interessiert sein, Russland sicherheitspolitisch in gesamteuropäische Strukturen einzubinden, eine Kooperation in der Raketenabwehr ist jedoch äußerst fraglich. - Dies auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bedrohungsperzeptionen.

Die russische Regierung versucht sich hier als international verlässlicher Partner darzustellen, indem sie einmal die gesamteuropäische Dimension eines zu entwickelnden Euro-ABM, zum anderen die gleichberechtigte Einbringung ihres angeblichen Vorsprungs in der Abwehrtechnik betont. Wenigstens psychologisch soll eine Annäherung zwischen Europa und Russland erfolgen. Allerdings setzt Moskau mit diesem Vorschlag eines seiner Hauptargumente gegen das US-NMD-Projekt, wonach das Bedrohungsszenario durch ‚states of concern' von der US-Regierung überbewertet würde, selbst außer Kraft. Wie der Journalist Gisbert Mrozek in der Berliner Zeitung schreibt, dürften "neue Initiativen wie die zur Schaffung eines europäischen Raketenabwehrschirmes (...) auch künftig zu erwarten" sein.(13) Möglich ist auch eine engere militärische Zusammenarbeit Rußlands mit China, welches sich durch NMD in gleicher Weise herausgefordert sieht. Die Rolle Russlands als militärischer Weltmacht wird zunehmend unhaltbarer und damit auch seine Berechenbarkeit auf dem internationalen Parkett.

Fazit

Der Bau eines Abwehrsystems gegen Interkontinentalraketen durch die USA, und damit ein Bruch des ABM-Vertrages, ist kaum noch zu verhindern. Alle Versuche der russischen Regierung, waren sie verbal oder der Vorschlag an die westeuropäischen Regierungen, eine europäisch-russische Raketenabwehr aufzubauen, scheiterten. Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass der Kreml seinen Protest einstellen wird und eine Degradierung seines politischen Ranges hinnehmen wird. Ob seine Initiativen erneut auf eine Kooperation mit Europa abzielen werden, ist nicht ausgemacht. Vorstellbar ist auch eine engere militärische Zusammenarbeit mit China. Abseits von allen rüstungspolitischen Implikationen könnte diese Entscheidung Washingtons unkontrollierbare Auswirkungen auf das russisch-amerikanische Verhältnis ausüben. Ob die USA, indem sie ihren nationalen Interessen Priorität einräumen, nicht ihre Kräfte überdehnen, wird sich zeigen. Sicher ist jedoch, dass solch eine Politik ohne die Vision einer internationalen Zusammenarbeit zentrifugalen Kräften in der Weltgemeinschaft, nicht nur in Russland, Auftrieb verleiht.

Thomas Busch studiert Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.

Anmerkungen:  
(1) Vgl. ami 5/2000, S. 22ff.
 
(2) Richard Norten-Taylor: Missile shield is moral requisite US tells allies, Guardian, 5.2.2001
 
(3) Itar-Tass, ABM Treaty Violation unacceptable, 15.2.2001.
 
(4) Kim Sengupta: Defence chief: us missile system may lead to 'doomsday scenario',
http://www.independent.co.uk/news/UK/Politics/2001.  
(5) Samuel Berger: The Shield Necessary?, Washington Post, 13.2.2001,
http://www.Washingtonpost.com  
(6) Adam Tanner: Russia Says U.S. Missile Plan Risks Space Arms Race, Reuters, 4.2.2001
 
(7) Theresa Hitchens: The U.S. Nuclear Debate: Issues of Concern., British American Security Information Council (BASIC), Washington, Februar 2001, Web:
http://www.basicint.org  
(8) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 27.2.2001.
 
(9) FAZ, 24.2.2001, S. 6.
 
(10) FAZ, 24.2.2001.
 
(11) BBC, 20.2.2001.
 
(12) Jamestown Foundation Monitor: Moscow unveils Missile Defence Plan for Europe, 22.2.2001.
 
(13) Gisbert Mrozek: Kommentar in der Berliner Zeitung, 28.2.2001.
 

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