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Ausgabe 11/99 Themenheft: Europäische Sicherheit   Seite 83ff

Seit den frühen 80er Jahren arbeiten die westeuropäischen Regierungen systematisch daran, dass Flüchtlinge und MigrantInnen nicht mehr nach Europa kommen können. Dazu haben Sie Datenbanken über die hier lebenden "Ausländer", ihre Herkunftsländer, über ihre bürokratiegemäße Verteilung, Verlegung und Anerkennungsverfahren angelegt und bürokratische Strukturen aufgebaut, in die sich die Ankommenden begeben müssen. Der Zugang zum Asylverfahren wurde erschwert, die Anerkennungsrate verringert und die Lebensbedingungen von AsylantragstellerInnen wurden drastisch verschlechtert. Seit Beginn der 90er Jahre baute vor allem die deutsche Bundesregierung das Abschiebesystem aus. Mehrere Hunderttausend Menschen wurden in den 90er Jahren abgeschoben.(1) Deswegen flohen viele Flüchtlinge und MigrantInnen, sobald sie nach Westeuropa kamen, in die Illegalität. Damit entstand auf der Herrschaftsseite ein Wissensvakuum. Über die Anzahl der Illegalisierten kann niemand ernsthaft Angaben machen. Auch die Forschung, die akademische wie die private, widmet sich den Illegalisierten nicht, wenn man von wenigen Ausnahmen absieht.(2)

Helmut Dietrich

Fluchtwege

Trotz der Entwicklung in Richtung Unsichtbarkeit sind die Illegalisierten präsenter als je zuvor, und zwar als lebendige Feindbilder, wie sie Medien und Polizeiakademien, Innenminister, Militärstrategen und Think Tanks in zunehmender Dramatik zeichnen. Aus diesem Blickwinkel stellen Illegalisierte den personifizierten Import von Kriminalität dar, und sie seien - so wird argumentiert -, wenn sie zahlreich kämen, eine Gefahr für die Sicherheit und Stabilität Westeuropas. Der politische Nutzen des Feindbildes ist mehrschichtig: Da ist die neoeuropäische Identität, die sich aus der Abgrenzung von den gefährlichen Auswärtigen nährt; dann hat dieses Dogma die westeuropäische polizeiliche Ausweitung nach Zentral-, Ost- und Südosteuropa in einzigartiger Weise befördert, Stichwort Dominotheorie der Abschottung: jedes Land gibt die Abgeschobenen weiter an das nächste Land nach Osten oder Süden ab. Die Grenzen und die Grenzräume, die mehr und mehr in grenzüberschreitender Polizeikooperation überwacht werden, sind zu gefährlichen Orten für Flüchtlinge und MigrantInnen geworden.

Aus den gefährlichen Orten werden nun gefährliche Wege. Neben dem heimlichen Grenzübertritt sind es die langen Fluchtwege selbst, von den Herkunftsorten bis in die Wohnbezirke westeuropäischer Großstädte, die zur Zeit zum Objekt neuer politischer und polizeilicher Praktiken werden. Die Europäische Union (EU) - so sind die jüngsten Beschlüsse des Rats für Justiz und Inneres und des EU-Gipfels in Tampere (Oktober 1999) zu interpretieren - weitet das Grenzregime auf den Transit aus, nach "innen" wie nach "außen". So entstehen neue Datenberge über Menschen, die durch ihre Flucht in die Illegalität aus den alten Erfassungsrastern herausgefallen sind.

Im folgenden soll das Augenmerk darauf gerichtet werden, dass die Blockierung der Flucht aus Südosteuropa im Laufe der letzten Jahre ausgearbeitet wurde und alle denkbaren Instanzen erfasst hat. Von den lokalen Ausländerbehörden und den untersten Grenzschützern vor Ort bis zu zentralen nationalstaatlichen Bundesbehörden und Regierungsstellen und weiter bis zu den supranationalen und zwischenstaatlichen Formierungen wie der Europäische Union (EU), den Schengener Vertragsstaaten und den internationalen Koordinationsstellen und Think Tanks wie den Inter-governmental Consultations (IGC, Genf) und dem International Centre for Migration Policy Development (ICMPD, Wien) zog sich seit Frühjahr 1997 wie ein rotes Band die Frage, wie diese Flüchtlingsroute zu zerschlagen und Auffangstrukturen in jenen Regionen zu installieren seien. Auf all diesen Ebenen wurde an dem Thema gearbeitet, und zwar nicht als Zusatzaufgabe, die andere zu lösen hätten, sondern als "kreative" Aufgabe, wie die Abwehr aus eigener Kraft der Behörden und ihrer MitarbeiterInnen gelöst werden könnte. Der NATO-Krieg gegen Serbien kam hier wie gerufen. Er hat diesen politischen Ansatz einer neuen westeuropäischen Flüchtlingspolitik zum Durchbruch verholfen. Die Fluchtwege aus und über den Balkan waren zeitweilig zusammengebrochen. KosovarInnen wurden wie keine andere Flüchtlingsbevölkerung zuvor in Europa - nicht nur in der EU - nach einheitlichen Kriterien gesondert polizeilich erfasst.

Konferenz der Budapester Gruppe

Die erste internationale Flüchtlingskonferenz, die im Vorfeld des Kriegs stattfand, war die "Sonderkonferenz der Budapester Gruppe zur illegalen Migration durch Südosteuropa" am 29./30. Juni 1998 in Budapest. Die Initiative zu der Konferenz ging von der deutschen Bundesregierung aus.(3) Auf der Konferenz wurden die Balkanstaaten (außer der BR Jugoslawien, die nicht an der Konferenz teilnahm) auf Maßnahmen zur Zerschlagung der "türkisch-albanischen Route" verpflichtet, über die die "illegalen Bewegungen" in den letzten Jahren zu Lande oder "weiter über die Adria und Italien nach Westeuropa" vordringen würden.(4) Insgesamt 31 Staaten nahmen an dieser Konferenz teil, unter ihnen Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Tschechische Republik, Mazedonien, Griechenland, Ungarn, Italien, Polen, Slowakei, Slowenien und die Türkei. Weitere Teilnehmer: Europarat, Europäische Kommission, IGC, ICMPD, Interpol, IOM (International Organisation for Migration) and UNHCR.

Dieses special meeting stand in der Tradition der europaweiten Ministerkonferenzen, die die deutsche Bundesregierung 1991 in Berlin begründet hat. Die Beschlüsse der ersten Zusammenkünfte hatten nur deklaratorischen Charakter. Umsetzungsfragen konnten in der Frühphase nicht verbindlich geklärt werden. Im Laufe der Jahre entstand aber eine arbeitsfähige Konferenzstruktur mit einem permanenten Sekretariat in Wien, zahlreichen Arbeitsgruppen und einer institutionalisierten europaweiten Zusammenarbeit zahlreicher Behörden, die mit Flüchtlings- und Grenzfragen befasst sind. Diese gesamteuropäische Konferenzstruktur, die auf die Einbindung Zentral- und Osteuropas in die Schengener und EU-Abschottungspolitik zielt, wird unter der Bezeichnung Budapester Prozess zusammengefasst.(5) Seit 1998 konnte die Berliner Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) feststellen, dass Gremien des Budapester Prozesses ihre Arbeitsweise verändern: Sie beschäftigen sich nicht mehr nur mit den "low intensity areas" der langjährigen Angleichung der Grenzaufrüstungen, flüchtlingsfeindlichen Maßnahmen und Gesetzen an die westlichen Standards, sondern gehen zu Aktionen ("energic work") koordinierter Fahndungen und Abschiebungen über.(6)

In dem Beschlussdokument der erwähnten Sonderkonferenz findet sich eine für den Budapester Prozess neue Alarmierungs- und Verbindlichkeitssprache: Die besprochene Umsetzung der Fahndungs- und Abschottungsziele längs der Balkanroute seien von "besonderer Dringlichkeit". Alle beteiligten Staaten werden gegen Illegale und Schleuser mit "maximal möglichem Ausmaß" vorgehen, "um die Maßnahmen im Kontext der gemeinsamen Strategie des Budapester Prozesse zu implementieren ". Zur Beobachtung, wie die Beschlüsse der Konferenz umgesetzt würden, und zur Ausarbeitung weiterer Vorschläge zur Zerschlagung der Südosteuropa-Route installierte man eine Arbeitsgruppe bei dem Sekretariat des Budapester Prozesses in Wien. - Die Folgekonferenz zur "illegalen Migration durch Südosteuropa" soll in Istanbul stattfinden.(7)

Das International Center for Migration Policy (ICMPD) und der Budapester Prozeß

Das Sekretariat des Budapester Prozesses ist bei dem International Center for Migration Policy Development (ICMPD) angesiedelt. Um die informelle Arbeitsweise der auf Zentral- und Osteuropa ausgerichteten Flüchtlingskonferenzen genauer verstehen zu können, sei kurz die Geschichte des ICMPD beleuchtet: Nach der Auflösung des Ostblocks und dem Beginn des Kriegs in Jugoslawien gründete sich aus den IGC ein Bereich aus, der Zentral- und Osteuropa, vor allem aber Südosteuropa in die gesamteuropäische Flüchtlingspolitik hereinholen wollte, und siedelte unter dem Namen International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) nach Wien um. Es wird zur Zeit von zwanzig Regierungen unterstützt. Eine vertragliche Kooperation besteht mit der IOM. Seine MitarbeiterInnen genießen seit 1997 diplomatischen Status. Die Netzwerke des "Centers" reichen bis in die Osteuropa-Fakultäten und in die internationalen Migrationswissenschaften. Das Zentrum hat sich mit dem Hauptbüro in Wien und einem Nebenbüro in Budapest in den Zentren der alten Balkanologie Österreich-Ungarns angesiedelt und in den letzten Jahren die "Migrationskontrolle" mit "strategischen Beratungen" vor allem auf dem Balkan zu entwickeln versucht.(8) Inhaltlich vertritt das Zentrum unter J. Widgren eine Aufwertung der Flüchtlings- und Migrationspolitik zu einer Art Leitwissenschaft in der Politologie und zum Leitfaden fast aller Regierungsressorts: Alles, was auf der Welt passiert, vom Bevölkerungswachstum bis zum ökologischen Desaster, wird unter das Ursachenszenario des weltweiten Flüchtlingsthemas subsumiert, das die Sicherheit des Westens in einzigartiger Weise herausfordere. Damit wird die internationale Flüchtlingspolitik zu einem Politikbereich erster Ordnung, dem die Geo- und Militärpolitik, die Ökologie und die innere Sicherheit, die Außenpolitik und die Entwicklungshilfe untergeordnet werden müsste. Die Regionalisierung der Flüchtlingspolitik hat der Leiter des ICMPD schon frühzeitig als Strategie zur Bekämpfung der Zugangsmöglichkeiten in den Westen proklamiert.(9)

Schweizer Konferenz

Am 22./23.März, also direkt bevor die NATO ihren Krieg gegen Jugoslawien begann, fand in der Schweiz eine Flüchtlingskonferenz zur sogenannten Kosovo-Krise statt.(10) Es handelte sich um die Mini Full Round - eine Art Jahreskonferenz - einer Koordinationsstelle, die unter dem unscheinbaren Namen Inter-governmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia (IGC) firmiert und in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist. Die sechzehn Mitgliedsstaaten der IGC - Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Großbritannien, Irland, Italien, Kanada, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, die Schweiz, Spanien und die USA, sowie die IGC-Mitglieder UNHCR und International Organisation for Migration (IOM) haben ranghohe Beamte zu dieser Konferenz in Bern geschickt.(11)

Zwar ist das Ergebnis, zu dem die IGC-Konferenz während der Kosovo-Krise kam nicht öffentlich bekannt. Ihre Arbeitsweise und ihre laufenden Publikationen lassen aber vermuten, dass die Diskussionsgrundlage der Konferenz aufbereitetes Datenmaterial zur Situation von Kosovoflüchtlingen und Vorschläge zur künftigen Bekämpfung des Exodus der KosovarInnen aus der Krisen- und künftigen Kriegsregion war. Wenige Tage vor Konferenzbeginn war im IGC-Umfeld eine umfangreiche Studie zur Migration in Zentral- und Osteuropa fertig geworden ("IOM and ICMPD: Migration in Central and Eastern Europe"), die die Kosovo-Krise als aktuell gefährlichste Herausforderung für die Migrationspolitik des Westens in ihren Mittelpunkt stellte und mit konkreten Zahlenangaben zu Vertriebenen und künftigen Entwicklungen aufwartete. Analysiert wurde die angebliche Bedrohungssituation vor allem in Deutschland, der Schweiz und Österreich, neben den Ländern Zentral- und Osteuropas. Hauptquelle der Datengewinnung sind in dieser Studie die Angaben der Grenzpolizeien, vor allem des deutschen Bundesgrenzschutzes (BGS) aufgrund von Festnahmen und Verhören von KosovarInnen, die im Zusammenhang heimlicher Grenzüberschreitungen verhaftet wurden, und die Anhörungen von Asylsuchenden durch das deutsche Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl). Beunruhigend ist die Tatsache, dass die Polizeidaten über heimliche GrenzgängerInnen und die Erkenntnisse aus Asylanhörungen aus weit über einem Dutzend Staaten zusammengeschlossen, in der Perspektive künftiger Bekämpfung von Flucht und Migration in kurzen zeitlichen Abständen ausgewertet und interpretiert werden. Der Schlüsselpunkt scheint dabei zu sein, dass nun entlang der Fluchtwege - nicht mehr nur an der Grenze - die Daten gewonnen werden und dort die Fluchtbekämpfung verstärkt ansetzt. Es ist eine Methode, die - wie weiter unten ausgeführt wird - deutsche Behörden am weitesten entwickelt und politisch in den Gremien von Schengen und der Europäischen Union verankert haben.

Der deutsche Aktionsplan Irak

Der erste und bisher einzige europäische Aktionsplan, der die Errichtung eines "Sicheren Hafens" (im Nord-Irak) und das Abschneiden der Fluchtwege in Südosteuropa als EU-übergreifende gesamteuropäische Aufgabe formulierte, stammt aus der Feder deutscher Bundesbehörden: Es ist der sogenannte Irak-Aktionsplan, der auf Recherchen des BGS und des BAFl im Frühjahr 1997 in Südosteuropa basierte und im Dezember 1997 zu einem Thema oberster Priorität in den Schengener und EU-Gremien avancierte.(12)

Eine die Recherchen zusammenfassende Schrift der Grenzschutzdirektion des BGS ermöglicht Einblicke in das Vorgehen des BGS nicht nur gegen irakische KurdInnen, sondern allgemein gegen Flüchtlinge und MigrantInnen auf der Route durch Südosteuropa.(13) Der BGS beschreibt den Weg in seinen potentiellen Stationen mit einer Fülle von Namen, Adressen, Telefonnummern und individuellem Aussehen von als FluchthelferInnen eingeschätzten Personen aus den Umkreisen von Kirchen, Reisebüros, Parteileuten, Pensionen und Hotels.(14) Die Journalistin Adriana Kuci, die bei der Zeitung Oslobodjenje in Sarajewo arbeitet, berichtete kürzlich, wie sie in diese Fahndungsrecherche verwickelt wurde und sich schließlich aktiv daran beteiligt hat.(15)

Das deutsche Innenministerium verwandelte diese Vorlage des BGS in einen Aktionsplan gegen Flüchtlinge auf der "Balkanroute" und setzte den Plan von Oktober bis Dezember 1997 in den entscheidenden EU-Gremien durch. Hilfe holte es sich bei den Massenmedien: Als im Dezember 1997 einige Schiffe mit kurdischen Flüchtlingen in Süditalien anlegten - was dort seit Jahren immer wieder vorkommt - , dramatisierte der damalige deutsche Innenminister Kanther diesen Vorfall zu einem bedrohlichen internationalen Vorfall. Italien wurde als neues Mitglied der Schengener Vertragsstaaten vorgeführt. Am 26. Januar 1998 verabschiedete der Rat für "Allgemeine Angelegenheiten" der EU den Irak-Aktionsplan.(16)

Bei den bundesdeutschen Behörden, die die Balkanroute-Hysterie ursprünglich mit ausgelöst hatten, zog man folgende Konsequenzen: Der BGS richtete eine "Sonderkommission zur Bekämpfung der Einschleusung und der illegalen Einreise irakischer Staatsangehöriger" bei dem Grenzschutz- und Bahnpolizeiamt Weil am Rhein ein. Alle entsprechenden Informationen und Ermittlungen sollen dort zusammenlaufen.(17) Dem BAFl wurden - nach einer Probephase von Dezember 1998 bis Mai 1999 - 33 Stellen für sogenannte Reisewegsfahndungen bewilligt.(18) Es sind freigestellte Verantwortliche in Rotation, die die Routenfahndung betreiben werden. Wöchentliche Berichte haben sie in ihrer Zentrale abzuliefern.

Man kann wohl kaum sagen, dass die vor Ort arbeitenden Behörden allein ein Anhängsel der internationalen Flüchtlingspolitik wären oder umgekehrt. Kennzeichnend ist eher ihre gegenseitige Bestätigung in der Festschreibung von Feind- und Fahndungsbildern, die immer stärker auf phänotypische Personenbeschreibungen und geographische Routen fixiert werden, und die kompetenzsprengenden Implikationen im Abwehrkampf. Das Recht auf Asyl wird vollends von seinem politischen Platz verdrängt: handelte es sich ursprünglich um die gesellschaftspolitische Frage nach den Fluchtgründen, tritt nun an diese Stelle die polizeiliche Fahndungsfrage zur Transitroute.

Die "Sicherheitsarchitektur Europas" entstammt dem Schengener System der Polizeizusammenarbeit, der Grenzaufrüstung und der Schleierfahndung. Eines ihrer Kennzeichen ist, dass sie über den Rahmen der Nationalstaaten hinausgreift: unterhalb werden die unterschiedlichsten Behörden aktiv, oberhalb die Gremien von Schengen und der Europäischen Union, und sozusagen nebenan übernehmen Think Tanks und zwischenstaatliche Koordinierungsstellen die Initiative. Es entsteht eine "new governance", die im NATO-Krieg ihren bisher stärksten Ausdruck gefunden hat. Den Platz an der Seite der NATO-Kommandeure nahmen Strategen der Flüchtlingsabwehr und "humanitäre" Organisationen ein, die in den Jahren zuvor den Balkan zu ihrem Handlungsfeld auserkoren hatten. Das Vorhaben, die dramatisierte "Balkanroute" zu zerschlagen, entspringt einer Allmachtsphantasie: Als könnten Menschen von ihrem Anspruch auf Einkommen, Existenz und Bewegungsfreiheit durch eine Kontroll- und Bevölkerungspolitik des reichen Westeuropas abgehalten werden.

Anmerkungen:  
(1) Quellen sind u.a. das SIS (Schengener Informationssystem), in dem Abgeschobene (aber nicht nur sie) erfasst sind. Das SIS funktioniert seit 1995, die BRD hat aber auch ältere Dateien da hinein geladen. Das "Verfallsdatum" der Daten, wann sie gelöscht werden müssen, ist z.T. ungeklärt. - Daneben gibt es jährlich Zahlen vom BGS über Abgeschobene in BGS-Begleitung, manche Bundesländer haben auch Zahlen in Jahresberichten veröffentlicht, die auch die Nicht-in-BGS-Begleitung Abgeschobenen umfassen. Da es keine zentrale umfassende Statistik gibt, ist man auf Schätzungen angewiesen.
 
(2) Kontakt: via Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V., Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin,
FFM@ipn.de, tel. 030-6935670 oder 69508642, fax 69508643]  
(3)"Delegates thank the Government of the Federal Republic of Germany for having initiated this meeting." (Budapest Group: Special Meeting of the Budapest Group on Illegal Migration through South-East Europe. Conclusions, Budpaest 29./30. Juni 1998, Budapest, S. 6; siehe auch: dies.: Background note to the Special Meeting of the Budapest Group on Illegal Migration through South East Europe, 19. Juni 1998, Wien 1998)
 
(4) Budapest Group: Conclusions; dies.: Background. Unter anderem wurde an Maßnahmen in Südosteuropa beschlossen: Einführung der Visapflicht und Einschränkung der Visaerteilungen auch durch südosteuropäische Staaten; Durchsetzung sogenannter kompletter Kontrollen an allen Grenzen, das heißt an allen Grenzübergängen müssen ab sofort alle Personen mit ihren Papiere einzeln kontrolliert werden; Aufbau einer Überwachung der Überlandstraßen im Hinterland der Grenzen; Einführung von Carrier Sanctions gegen Transportunternehmen, die Sans Papiers befördern; Ausbau des Rückübernahmesystem auch zwischen den Staaten Südosteuropas; Austausch von Verbindungspolizisten; Verschärfung der Strafverfolgung von illegal Reisenden und FluchthelferInnen; Einrichtung nationaler Zentren zur Sammlung von Daten "über neue Immigrationswege, die Transportmittel, Dokumentenfälschung und Schlepperorganisationen". Aus jedem Land sind diese Informationen ab dem 15. August 1998 regelmäßig dem ICMPD in Wien zu melden. - Die westlichen Staaten verpflichten sich, die Beratung der Grenzpolizeien und Behörden längs der Südosteuropa-Route zu übernehmen und in kurzen zeitlichen Abständen Berichte über die Entwicklung der "illegalen Migration und der trafficking Aktivitäten" herauszugeben; Experten für längere Zeit an die "troublesome border crossings" und "at portions of the green and blue borders that are particularly prone to illegal migration" zu schicken, mit dem Auftrag, die Arbeit der Grenzpolizeien zu beobachten und zu beraten; Dokumente-Experten besonders auf Flughäfen und Seehäfen in Südosteuropa zu stationieren, die die lokalen Polizeien und Reiseunternehmen bei der Erkennung gefälschter Papiere schulen sollen; und Ausrüstung und Training der Grenzpolizeien zu verbessern.
 
(5) Derzeit koordinieren sich im Budapester Prozess Vertreter aus 38 Regierungen und 10 internationalen Organisationen. Als Aufgaben des Budapester Prozesses werden in einem offiziellen Bericht genannt: "the compilation of an inventory of the needs of the Central and Eastern European (e.g., training, computers, vehicles, and communication equipment) and of possible offers from Western European sources and exploration of possibilities of additional financial assistance to improve border control and facilitate return programmes. The emphasis is thus shifting towards measures to combat migrant trafficking, border control and readmission agreements." (Ghosh 1998, 136)
 
(6) Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM): Europäische Integration auf dem Rücken von Flüchtlingen. Presseerklärung zu Abschiebungen aus Polen. Berlin, Dezember 1998
 
(7)
http://www.icmpd.org  
(8)
http://www.icmpd.org. An Einzelprojekten des ICMPD seien genannt: Unterstützung eines europaweiten Rückführungsprogramms von Flüchtlingen nach Bosnien-Herzegowina (Repatriation Information Centre [RIC]; http://www.ric.com.ba); ein Mass information project in Albanien seit 1997 mit finanzieller Unterstützung des UNHCR, damit sollen die Leute vom Verlassen des Landes abgehalten werden.  
(9) Jonas Widgren, International Migration and Regional Stability, in: Internat. Affairs 66, 4, (1990), 749-766
 
(10)
http://www.igc.ch  
(11) Das Inter-governmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia (IGC), häufig Informal Consultations genannt, ist laut Selbstbeschreibung ein informelles Forum ohne Entscheidungsstrukturen, das sich dem Informationsaustausch und der Koordinierung der internationalen Flüchtlingspolitik zwischen den obengenannten sechzehn Staaten und zwei internationalen Organisationen widmet. Die IGC wurden 1985 gegründet. Ein eigenes Sekretariat eröffnete es im Juni 1991 in Genf. Es beschäftigt zwei Hauptangestellte und eine Reihe von abgesandten Verbindungsexperten aus den beteiligten Staaten. Alle genießen diplomatischen Status. Der Haushalt des Sekretariats beläuft sich auf unter einer Million US-Dollar, die technische Infrastruktur stellte zunächst das UNHCR und inzwischen die IOM. Frankreich hat sich aus diesem Netzwerk 1996 mit der Begründung zurückgezogen, dass die IGC parallel zur Europäischen Union arbeiteten. (IGC [Secretariat of the Inter-Governmental Consulations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia]: Information note on Inter-governmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia [IGC], Genf 1999) - Genaueres zu IGC siehe Helmut Dietrich: Europäische Flüchtlingspolitik und der NATO-Krieg. Die Zerschlagung der Fluchtwege aus dem Balkan nach Westeuropa, in: Widerspruch, Heft 37, 1999
 
(12) Es ging, so der damalige deutsche Innenminister Manfred Kanther, gegen "die von Schleuserbanden organisierte illegale Zuwanderung irakischer Staasangehöriger", sein Beweis für die "besorgniserregende" Zunahme: Von Januar bis November 1997 habe es 13.043 Asylanträge von irakischen Staatsangehörigen in Deuschland gegeben. (Kanther, Manfred: Zustrom von Einwanderern aus Irak. Entwurf eines Sofort-Aktionsprogramms. Rat Justiz und Inneres am 4./5. Dezember 1997 in Brüssel, TOP 12, S. 1) In der Geschichte der Festung Europa ist diese Inszenierung eines riesigen Bedrohungspotentials auf der Grundlage tatsächlich sehr geringer statistischer Zahlen ohne Beispiel. Für viele unvergessen ist sicherlich die Mediendramatik im Dezember 1997 und Januar 1998, als Kanther auf Schiffe mit kurdischen Flüchtlingen an Bord, die an der italienischen Küste an Land gingen, mit geradezu absurden Übertreibungen und Schreckensdrohungen aufmerksam machte und die italienischen Behörden auf Schengenkurs brachte. Die Dramatisierung der Ankunft von KurdInnen in Italien war der Teil der Kampagne, mit dem der Irak-Aktionsplan durchgesetzt wurde. - Der Aktionsplan Irak ging in seiner engeren Zielbestimmung davon aus, dass auch in Zukunft irakische Staatsangehörige, insbesondere KurdInnen, nicht über Bagdad abgeschoben werden könnten. Der Aktionsplan Irak, der nur zum Teil umgesetzt ist und daher bis heute auf der internationalen Agenda steht, sieht unter anderem vor, dass die Türkei ein Rückschiebesystem nach Südkurdistan (d.i. Nordirak) und eine Lagerverwaltung in Grenznähe aufbaut. Auf der einen Seite weigerten sich die gegen den Irak kriegführenden Staaten, politische Garantien für Südkurdistan (Nordirak) abzugeben; auf der anderen Seite erklärten dieselben Staaten diese Region zum Sicheren Hafen, zur Binnenfluchtalternative für KurdInnen, wohin abgeschoben werden kann.
 
(13) [BGS] Grenzschutzdirektion, Zentralstelle Unerlaubte Einreise Schleusung: Auswerteprojekt. Einschleusung irakischer Staatsangehöriger nach Deutschland. 1. Juli 1997, 69 Seiten, Koblenz. Als Anlage der deutschen Delegation an CIREFI am 15. Dezember 1997 übermittelt (13415/97. Limité. CIREFI 74)
 
(14) "Das Projekt wurde in Form einer Arbeitsgruppe des Sachgebietes II/22 bei der Grenzschutzdirektion konzipiert und durchgeführt." (BGS 1997, S. 2). Als Quellenbasis der Recherche fungieren: Ermittlungen des Bayrischen Grenzschutzes und des BGS gegen irakische Staatsbürger wegen Schleusungen, zum größten Teil wahrscheinlich über Telefonüberwachung; eine anscheinend systematische Auswertung aller Anhörungen irakischer Staatsangehöriger, die um Asyl nachsuchten, durch das BAFl; Ausländerzentralregister beim Bundesverwaltungsamt; Berichte von BGS-Verbindungsbeamten in Italien, Griechenland und der Türkei; Ermittlungen von Europol; Mitteilungen von Polizeien anderer Länder; JournalistInnen.
 
(15) Kuci, Adriana: Stuck in Sarajewo. On the trail of a travel agency offering illicit package tours, in: Transitions, vol. 5 no. 12, Dezember 1998, S. 52-53. Prag 1998
 
(16) EU, Der Rat für "Allgemeine Angelegenheiten": Zustrom von Zuwanderern aus Irak und den Nachbargebieten: EU-Aktionsplan. 26. Januar 1998 Dok. 5573/98, Limite, ASIM 13 EUROPOL 12 PESC 27 COMEM 4 COSEE 4. Brüssel 1998
 
(17) BGS 1997, S. 62
 
(18) Dirscherl, Joachim: Der Reisewegsbeauftragte im Bundesamt. Probephase von Dezember 1998 bis Ende Mai 1999, in: Asylissimo. Mitarbeiterzeitung des BAFl, 1999, Heft 1, S. 6
 

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