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Ausgabe 5/00   Seite 12ff

Voraussichtlich in den nächsten Monaten wird der US-Präsident darüber zu entscheiden haben, ob er dem Bau einer Stellung von Anti-Raketen-Raketen zur Abwehr angreifender Flugkörper zustimmen wird oder nicht. Möglicherweise wird durch dieses neue System der ABM-Vertrag mit Rußland verletzt wird. Die Regierung in Moskau hat für diesen Fall angedroht, die Abkommen zur nuklearen Abrüstung aufzukündigen. Das trotz der Spannungen im Kalten Krieg mühsam aufgebaute System aus sich ergänzenden Rüstungskontrollverträgen würde dann ersatzlos zusammenbrechen. Sollte der amerikanische Präsident dennoch den Bau der Raketenabwehrstellung genehmigen, stellt sich konkret die Frage, ob die USA eine Erstschlagsfähigkeit anstreben.

Raketenabwehr, Erstschlagsfähigkeit und die Zukunft der Rüstungskontrolle

Als die damalige Sowjetunion Mitte der fünfziger Jahre ihren ersten Erdtrabanten Sputnik 1 ins All schoß, bestand die einzige Funktion dieses Satelliten darin, "Piep, Piep" zu machen. Dennoch reagierte die amerikanische Bevölkerung entsetzt. Waren die USA bis dahin im Kriegsfall durch die Ozeane vor feindlichen Angriffen geschützt, so bedeutete der Start des sowjetischen Satelliten, daß die UdSSR über Trägerraketen mit interkontinentaler Reichweite verfügten. Das US-Territorium lag in der Schußweite feindlicher Waffen, die USA waren verwundbar geworden. In den Medien nannte man das damals verharmlosend den "Sputnik-Schock".

Seitdem versuchten Generationen amerikanischer Militärtechniker, durch die Entwicklung eines Anti-Ballistic Missile- Systems (ABM) einen effizienten Schutzschirm gegen feindliche Raketenangriffe aufzubauen, um den alten Zustand der Unverwundbarkeit wieder herzustellen. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre projektierte man das Sentinal-System, von diesem wurde aber nur die abgespeckte Variante, das Safeguard genannte System, verwirklicht. Eine Militärstellung mit 100 Anti-Raketen-Raketen in Grand Folks (Nord Dakota), die nach wenigen Wochen wieder eingemottet wurde. Dann, Anfang der achtziger Jahre, forderte Präsident Ronald Reagan im Rahmen des "Kriegs der Sterne" sein SDI-Projekt, das später auf das GPALS-System reduziert, dann aber doch nicht verwirklicht wurde.

Eine vom amerikanischen Senat beauftragte Untersuchungskommission unter Leitung des früheren Luftwaffengenerals Larry D. Welch kam 1998 zu dem frustrierenden Ergebnis, daß die USA in den vergangenen vierzig Jahren 40 Milliarden Dollar in ABM-Projekte investiert hatten, bei denen unterm Strich nichts herausgekommen ist. (vgl. ami, 3/1999, S. 5-10) Dies ist kaum verwunderlich: Angreifende Raketengefechtsköpfe haben nur einen Durchmesser von knapp einem Meter, rasen aber mit einer Geschwindigkeit von rund 24.000 Stundenkilometern heran.(1) Einen Gefechtskopf mit einer Abwehrrakete abschießen zu wollen ist genauso schwierig, als wolle man eine Gewehrkugel im Flug mit einer Pistolenkugel treffen. Nun unternehmen die USA den fünften kostspieligen Versuch, ein effektives ABM-System aufzubauen.

Das geplante ABM-System

Das geplante Boeing-Abwehrsystem besteht aus einem neuartigen Raketensystem und Hightech-Radaranlagen. Der Rüstungskonzern Raytheon steuert die Anti-Raketen Raketen bei, die als "kill vehicle" bezeichnet werden. Das Projekt soll in drei Phasen realisiert werden. In einem ersten Schritt (Extended Capability 1) wird bis zum Jahr 2007 in Alaska eine Raketenabwehrstellung mit 100 Anti-Raketen Raketen, vier Frühwarnsatelliten (high orbit Space-Based Infrared System Satellites - SBIRS-high), fünf bodengestützte Frühwarnradaranlagen, sechs SBIRS-low Satelliten zur Bahnverfolgung der angreifenden Raketengefechtsköpfe und einem Bahnverfolgungsradar auf der Insel Shemya aufgebaut.

In der folgenden Phase (Extended Capability 2) werden bis zum Jahr 2011 die verfügbaren Radarkomplexe erweitert auf insgesamt fünf SBIRS-high Frühwarnsatelliten, fünf Frühwarnradarstationen, 24 SBIRS-low Bahnverfolgungssatelliten und vier bodengestützte Bahnverfolgungsradaranlagen.

In der letzten Ausbauphase (Extended Capability 3) bis zum Jahre 2015 wird eine zweite Raketenstellung voraussichtlich in Grand Forks errichtet. Beide Stellungen sollen über insgesamt 250 Abwehrraketen verfügen, sechs Frühwarnsatelliten, sechs Frühwarnradarstationen, 24 SBIRS-low Bahnverfolgungssatelliten und 9 bodengestützte Bahnverfolgungsradare. Nach einem Bericht des Rechnungshofes des US-Kongresses kostet die Grundausstattung in der ersten Phase 29.5 Mrd. Dollar, das komplette System in der Endausbaustufe 59,4 Mrd. Dollar.(2)

US-Raketentests

Bisher ließ das Pentagon zwei Raketentests durchführen, die allerdings beide scheiterten: Am 2. Oktober 1999 scheiterte ein erster Test u.a. daran, daß man in den Navigations-Bordcomputer der Anti-Raketen-Rakete bedauerlicherweise eine falsche Sternenkarte eingespeist hatte. Außerdem kam heraus, daß das Pentagon die Testbedingungen manipuliert hatte: In der Nähe des voraussichtlichen Abfangbereichs wurde ein Ballon installiert, der der Abfangrakete ersteinmal die grobe Richtungsorientierung erleichtern sollte.(3)

Am 18. Januar 2000 scheiterte eine weiterer Test, weil zwei Kühler für die Infrarotsensoren der Abfangrakete ausfielen. Die ärgerliche Panne ereignete sich sechs Sekunden, bevor der Flugkörper nach achtminütigem Steigflug das Zielobjekt hätte treffen müssen.(4)

Das Scheitern der beiden Versuche hat weitreichende politische Folgen. Ein zunächst für April vorgesehener dritter Test mußte verschoben werden.(5) Da der US-Präsident Bill Clinton auf Grund der Auswertung der Ergebnisse aus diesen drei Tests eine Entscheidung über die Fortführung des ganzen ABM-Projektes im Juli diesen Jahres treffen wollte, verzögert sich mit der Verschiebung des dritten Tests auch die politische Entscheidungsfindung.(6) Nun soll der Präsident im Herbst 2000 eine Entscheidung treffen, weil dann die Gelder für das nächste Haushaltsjahr verteilt werden. Andernfalls würde sich das ganze Projekt um rund ein weiteres Jahr verzögern - nachdem bereits heute das ganze Projekt um zwei Jahre hinter der ursprünglichen Zeitplanung hinterherhinkt - und eine Fertigstellung des geplanten Systems bis zum Jahre 2005 ließe sich dann nicht mehr einhalten. Allerdings fordern Kritiker, der amtierende Regierungschef solle überhaupt keine Entscheidung mehr zum ABM-Programme fällen, sondern diese wichtige Frage seinem Amtsnachfolger überlassen, der am 7. November 2000 gewählt werden wird.

Bedrohungsperzeption

Offiziell begründet wird die Notwendigkeit eines neuen ABM-Systems damit, daß "Schurkenstaaten" die USA mit Langstreckenraketensystemen bedrohen könnten.(7) Eine Gefahr sehen die USA in den jeweils zwanzig chinesischen Raketen der Typen DF-4 und DF-5. Die weiteren Typen DF-31 und DF-41 befinden sich zur Zeit noch in der Entwicklung.(8) Allerdings scheint es um die chinesischen Kriegsgelüste nicht allzu weit bestellt zu sein. In einer Analyse der Pekinger Strategiepapiere kam das Pentagon zu dem Ergebnis, die Chinesen wollen bis zum Jahr 2030 einen Krieg gegen die USA möglichst vermeiden.(9) Auch die nordkoreanische Taep-Dong II-Rakete ist erst einmal getestet worden; der Versuch schlug fehl. Sollte dieser Flugkörper eines Tages zu einem voll funktionsfähigen Waffensystem entwickelt werden, was angesichts der begrenzten nordkoreanischen Ressourcen Jahre dauern wird, könnte diese Rakete die amerikanischen Bundesstaaten Alaska und Hawaii treffen. Während die Berechtigung der US-Bedrohungsbehauptungen von Kritikern in Frage gestellt wird, kam plötzlich die Gefahr aus einer unerwarteten Ecke: Als die israelischen Atomstreitkräfte kürzlich eine Mittelstreckenrakete vom Typ Jericho zu einem Raketentest abfeuerten, ging der Flugkörper in der Nähe der Flugzeugträgerkampfgruppe U.S.S. Enterprise im Mittlemeer nieder. Die Israelis hatten es versäumt, das Seegebiet zum Sperrgebiet zu erklären.(10)

Verstoß gegen ABM-Vertrag?

Für die russische Regierung ist das amerikanische Argument, man müsse sich gegen "Schurkenstaaten" schützen, nur vorgeschoben. In Wirklichkeit gehe es der US-Regierung darum, sich durch den Aufbau eines neuen Raketenabwehrschirms gegenüber russischen Vergeltungsschlägen unverwundbar zu machen. Die USA wollten die Erstschlagsfähigkeit. Außerdem verstoße das geplante Raketenabwehrsystem gegen den ABM-Vertrag vom 3.10.1972. Damals einigten sich die USA und die damalige Sowjetunion auf eine Begrenzung der nationalen ABM-Systeme. Jede Seite sollte jeweils eine Raketenstellung mit 100 Flugkörpern aufbauen dürfen, die entweder die Landeshauptstadt oder ein Feld von Interkontinentalraketen verteidigen sollten. Die USA motteten ihr Safeguard-System 1976 ein, das sowjetische System besteht bis heute aus einem Ring von Galosh-Raketen um die Hauptstadt Moskau.

Das von den USA nun geplante System sei aus mehreren Gründen mit den vertraglichen Vereinbarungen nicht kompatibel: So diene die Anti-Raketen Raketen-Stellung in Alaska weder dem Schutz von Washington, noch werde damit ein ICBM-Feld verteidigt. Außerdem planen die USA in einer späteren Phase den Bau einer weiteren Raketenstellung mit mindestens 100 Flugkörpern.(11) Durch Zusammenschalten mit AEGIS-Kreuzern, luft- oder weltraumgestützten Laserkanonen sowie anderen Raketenabwehrsystemen zum Schutz von Truppen- oder Flottenverbänden lasse sich die geplante Raketenstellung zu einem landesweiten Abwehrschirm vernetzen.(12)

Allerdings wird von republikanischen US-Politikern bezweifelt, daß der ABM-Vertrag überhaupt noch völkerrechtliche Verbindlichkeit besitzt. Er wurde nämlich zwischen den USA und der UdSSR abgeschlossen, letztere hat aber 1991 aufgehört zu existieren. So setzte der republikanische Kongreßabgeordnete und Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses in einem Gesetzeszusatz 1997 durch, daß das amerikanische Parlament erst noch darüber abstimmen müsse, ob es Rußland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion beim ABM-Abkommen anerkennen will oder nicht.(13)

Über die Möglichkeit, daß die russische Regierung schließen doch einknicken und einer Modifikation des ABM-Vertrages zustimmen könnte, die - um das Gesicht zu wahren - keine Veränderungen am eigentlichen Vertragstext notwendig machen dürfe, sondern diesen durch Zusatzprotokolle ergänzen müsse, wurde wiederholt spekuliert.(14)

Haltung der Europäer

Die europäischen NATO-Partner stehen den amerikanischen Plänen zum Aufbau eines nationalen Raketenabwehrsystem, das das ABM-Abkommen gefährdet, ablehnend gegenüber, weil sich jede Verschlechterung der amerikanisch-russischen Beziehungen negativ auf die Sicherheitspolitik in Europa auswirken muß.(15) Allerdings ist der politische Einfluß der Europäer gering, weil bisher Rüstungsbegrenzungen im strategischen Bereich ausschließlich zwischen den USA und der Sowjetunion/Rußland bilateral verhandelt werden.

Eine Einflußmöglichkeit bietet sich allerdings den europäischen Staaten: Die USA beabsichtigen ihr strategisches Frühwarn-Radarsystem im grönländischen Thule zu modernisieren. Das halbautonome Regionalparlament der Inuit hatte am 18.11.1999 beschlossen, daß sie diesem Vorhaben nur dann zustimmt, wenn es nicht gegen den ABM-Vertrag verstößt. Außerdem haben sich die Eskimos aus Rußland, den USA, Kanadas und Grönlands zu einer Kampagne gegen die US-Pläne zusammengeschlossen. In Kopenhagen hat die dänische Regierung signalisiert, daß sie diese Parlamentsentscheidung respektieren werde.(16)

Desweiteren stellt sich Frage, welche Rolle eine amerikanische Radaranlage Have Stare/Global II im norwegischen Vardo spielt. Während die amerikanische und die norwegische Regierungen behaupten, das Radar diene der Überwachung des sogenannten Weltraummülls, wird die Richtigkeit dieser Behauptung von Experten bezweifelt. Diese vermuten, die Radaranlage diene zur Überwachung der russsichen Raketenabschüsse im Nordmeer oder vom Kosmodrom in Plesetsk und könne damit auch Frühwarnfunktionen für das geplante ABM-System übernehmen.(17)

Kopplung zwischen ABM- und START-Verträgen

Der amerikanisch-sowjetische ABM-Vertrag zur Beschränkung der strategischen Defensivkapazitäten ist eng verbunden mit den bilateralen SALT und START-Verträgen zur Begrenzung des nuklear-strategischen Offensivarsenals. Beschränkungen in dem einen Bereich machen nur Sinn, wenn auch im anderen Bereich Höchstgrenzen festgelegt werden, weil nur so ein militärisches Gleichgewicht aufrechterhalten werden kann.

Während der ABM-Vertrag von beiden Seiten ratifiziert wurde, gab es diesbezüglich mit dem START II-Abkommen Schwierigkeiten: Zwar wurde er 1996 vom US-Senat ratifiziert, aber die russische Duma war dazu erst am 14.4.2000 bereit.

Allerdings kann der START II-Vertrag nun immer noch nicht in Kraft treten, weil Paragraph 9 des russischen Ratifizierungsgesetzes dies davon abhängig macht, daß der US-Senat erst zwei im Jahre 1997 ausgehandelte Zusatzprotokolle ratifiziert. Diese besagen u.a., daß die Frist zur Erfüllung der nuklearen Abrüstung vom Jahr 2003 auf 2007 verlängert wird, da die russischen Möglichkeiten zur Demontage der Sprengköpfe nicht ausreichen.

Ende der Abrüstung?

Allerdings besteht die russische Seite auf der Kopplung zwischen ABM- und START-Verträgen: Wenn die US-Regierung durch den Aufbau eines neuen Raketen-Abwehrsystems den alten ABM-Vertrag brechen solle, werde umgekehrt Rußland sofort den START II-Vertrag aufkündigen, heißt es in Artikel 2 des russischen Ratifizierungsgesetzes.(18)

Es hätte katastrophale politische Folgen, wenn

  1. die strategischen Offensiv- und Defensiv-Abkommen ihre Gültigkeit verlieren,
  2. der amerikanische Senat einen Beitritt zu dem Vertrag über einen umfassenden Atomteststopp (Comprehensive Test Ban Treaty - CTBT) weiterhin verweigert(19),
  3. es für sogenannte subkritische Nukleartests, bei denen keine kompletten Atomwaffen, sondern nur deren einzelne Komponenten getestet werden, auch zukünftig keine vertraglichen Beschränkungen zustandekommen,(20)
  4. die Funktionalität des Atomwaffensperrvertrages (Non-Proliferation Treaty - NPT) durch die de facto Weiterverbreitung von Nuklearwaffen unterlaufen wird, und
  5. ein Abkommen über eine Beschränkung der taktischen A-Waffen nach wie vor aussteht. Auch gibt es bisher kein Rüstungskontrollabkommen, daß die britischen oder französischen Nuklearstreitkräfte einbezieht. Dies ist erst für zukünftige START IV-Verhandlungen geplant.


Das ganze fragile System zur nuklearen Rüstungskontrolle, das in den letzten fünfzig Jahren in schwierigen Verhandlungen aufgebaut wurde, droht im Fall des Bruchs des ABM-Vertrages durch die USA innerhalb weniger Wochen zusammenzubrechen. Dies hätte außerdem Auswirkungen auf die Rüstungsbegrenzung in anderen Bereichen, so bei den konventionellen Waffen, wie der russische Präsident Wladimir Putin ankündigte. Möglicherweise käme dann einer erneuter Rüstungswettlauf in gang.

Erstschlagsfähigkeit

Mit dem START II-Abkommen einigten sich die USA und die damalige Sowjetunion auf konkrete Abrüstungsmaßnahmen bei ihren jeweiligen nuklearstrategischen Arsenalen aus Bombern, Interkontinentalraketen (ICBMs) und U-Booten-Raketen (SLBMs). Die Vertragsbestimmungen werden dahingehend interpretiert, daß die USA zukünftig noch über 3500 Nukleargefechtsköpfe verfügen dürfen und die Sowjetunion respektive Rußland über 3000 Sprengköpfe.

Allerdings ist fraglich, ob Rußland in den nächsten Jahren selbst diese reduzierte Zahl von Atomwaffen einsatzbereit halten kann, da zahlreiche Nuklearwaffen die Grenzen ihrer technischen Lebensdauer erreichen und daher ausgesondert werden müssen. Aus Finanzgründen ist Rußland aber kaum in der Lage, ausgemusterte Systeme durch neue Waffen, wie z.B. die Interkontinentalrakete Topol-M oder die U-Boot-Rakete Bark, zu ersetzen.(21) Deswegen wollen die Russen bei den laufenden START III-Verhandlungen eine Reduzierung der Gefechtsköpfe auf 1500 durchsetzen, während die Amerikaner einen Mindestbestand von 2000 Stück behalten wollen.(22) Außerdem sind die technischen Ausfälle beim russischen Frühwarnsystem bereits heute gefährlich groß. So ist das ganze System täglich stundenweise "erblindet". Es fehlen u.a. sechs Satelliten und zwei Radarstationen für eine permanente Weltraumüberwachung.(23)

Hingegen können die USA ihr Atomarsenal im vertragsgemäßen Umfang voll aufrechterhalten. Außerdem soll im Rahmen des "Submarine Warhead Protection Program" (SWPP) eine Modernisierung der Zündsysteme an den 3200 W-76 Gefechtsköpfen der Trident-U-Boot-Raketen vorgenommen werden. Durch Verringerung der Detonationshöhe der Sprengköpfe soll deren Lethalität (=Tödlichkeit) wesentlich gesteigert werden, so daß diese nicht mehr nur gegen weiche Flächenziele (Großstädte und andere Menschenansammlungen), sondern auch gegen gehärtete Punktziele (Kommandobunker, Raketensilos) einsetzbar wären.(24)

Auch haben die USA noch einen "Hedge" genannten Reservebestand von 4000 Nukleargefechtsköpfen, der bei den START-Verhandlungen überhaupt nicht mitgezählt wurde.(25) Wenn die amerikanische Regierung nun auch noch ein neues Raketenabwehrsystem aufbauen würde, um sich gegenüber einem russischen Vergeltungsangriff zu schützen, dann könnten die USA damit eine Fähigkeit zum militärischen Erstschlag (first strike) erlangen. Dabei würden die USA in einem massiven nuklearen Überraschungsangriff das russische Atompotential weitgehend vernichten, so daß die amerikanischen Verluste durch eine russische Vergeltung relativ gering wären: "Victory is possible!" lautet die bekannte Parole für den atomaren Endsieg.

Die US-Regierung versucht diese Anschuldigungen durch zweifelhafte Maßnahmen zu zerstreuen. In einem vertraulichen Papier vom Januar 2000 schlug die USA Rußland allen Ernstes vor, sie sollten ihre strategischen Flugkörper bereits dann abschießen, wenn die russischen Radaranlagen einen Anflug amerikanischer Raketen gegen Rußland melden würden (launch on warning). Die amerikanischen ICBMs würden dann nur noch die leeren russischen Raketensilos treffen, Rußland brauche sich daher um eine US-Erstschlagsfähigkeit keine Sorgen machen und könne einer Änderung des ABM-Vertrages ruhig zustimmen. Bisher gilt es als ausgemacht, daß die Russen ihre Raketen erst abfeuern, wenn die ersten US-Gefechtsköpfe auf russischem Territorium explodiert sind (launch under attack). Würde die russische Regierung diese Politik ändern und den amerikanischen Vorschlag befolgen, stiege die Gefahr erheblich an, daß durch einen Fehlalarm ein russischer Atomangriff auf die USA irrtümlich ausgelöst werden könnte.(26). "Accidental war" heißt dies in der Sprache der Strategen.

Nicht nur Rußland, auch den Schwellenländern der "Dritten Welt" drohen amerikanische Überraschungsangriffe. Dabei schließen die USA selbst einen Ersteinsatz von Atomwaffen (first use) nicht aus. So verabschiedete die US-Regierung 1997 die Präsidentendirektive Presidential Decision Document 60 (PDD 60) (vgl. ami 4/1998, S. 34-37), ein Jahr später erfolgte die US-Attacke gegen Sudan und Afghanistan. Während die Europäer einen amerikanischen Erstschlag gegen Rußland ablehnen, sind sie zur Zerstörung von Massenvernichtungswaffen in Schwellenländern der "Dritten Welt" bereit, die aggressivere amerikanische Counterproliferation-Strategie mit der geplanten neuen NATO-Militärstrategie MC 400/2 zu übernehmen. Es versteht sich von selbst, wie destablisierend eine solche Politik preemptiver bzw. präventiver Angriffe sich in Krisensituationen auswirken muß.

In der Nuklearkriegsdoktrin des amerikanischen Generalstabs JP 3-12-1 vom 9. Februar 1996 heißt es: "Operationen müssen mit dem Ziel geplant und ausgeführt werden, die gegnerischen Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen und die unterstützende Infrastruktur zu zerstören oder auszuschalten, bevor diese gegen die eigenen Kräfte zum Einsatz kommen können. Aus diesen Gründen sollten offensive Operationen gegen feindliche Massenvernichtungswaffen und deren Trägersysteme unternommen werden, sobald die Feindseligkeiten unausweichlich erscheinen oder beginnen."(27)gp

Anmerkungen:
(1) N.N., US Missile test fails, BBC News Online, 19.1.2000
(2) Christopher Hellman, CBO: Missile Defense Will Cost $60 Billion, zit.n. Center for Defence Information, Weekly Defense Monitor Nr. 17, 27.4.2000, http://www.cdi.org. Der CBO-Bericht "Budgetary and Technical Implications of the Administration's Plan for National Missile Defense" ist im Internet verfügbar: http://www.cbo.gov/showdoc.cfm?index=1984sequence=0&from=7
(3) James Glanz, Flaws Found in Missile Test That U.S. Saw as a Success, New York Times, 14.1.2000, S. 1
(4) N.N., U.S. Missile Debate Escalates, Associated Press, 20.1.2000, http://library.northernlight.com/EC20000119700000037.html?cb=0&dx=1006&sc=0#doc
(5) Robert Burns, Clinton Mulls U.S. Defense System, Associated Press, 8.2.2000, http://www.dailynews.yahoo.com/htx/ap/20000208/pl/missile_defense-7.html
(6) Council for a Livable World Education Fund, Delaying Missile Defense: Not a Tidal Wave, but a definite Tide, Washington, 16.2.2000, http://www.clw.org/ef/nmdtide.html
(7) N.N., CIA Director Details World Threats, Associated Press, 2.2.2000, http://www.dailynews.yahoo.com/h/ap/20000202/pl/tenet_threats_1.html
(8) N.N., Chinas Ballistisches Raketenarsenal, Soldat und Technik, 5/2000, S. 308
(9) Bill Gertz, Pentagon Study finds China preparing for war with U.S., The Washington Times, 2.2.2000, http://www.washtimes.com/national/nation3-020220000.htm
(10) Rear Admiral Craig R. Quigley, DoD News Briefing, Washington, 2.5.2000
(11) Steven Lee Myers / Jane Perlez, Documents Detail U.S. Plan to Alter '72 Missile Treaty, New York Times, 28.4.2000, http://www.10.nytimes.com/library/world/global/042800russia-us-arms.html
(12) Daniel Smith, Lasers for Defense, zit.n. Center for Defense Information, Weekly Defense Monitor, No. 14, Washington, 6.4.2000, http://www.cdi.org
(13) Elizabeth Becker, Right's Anti-ABM Weapon, New York Times, 29.4.2000, http://www.nytimes.com/library/world/global/o42900abm-treaty.html
(14) Jim Heints, Russia hints at compromise on missile defense, Associated Press, 11.4.2000, http://www.newsunlimited.co.uk/russia/article/0,2763,158281,00html; Simon Saradzhyan, U.S. May Get Deal On ABM Treaty, Moskow Times, 27.4.2000
(15) T.R. Reid, Blair Noncommittal On Missile Shield, Washington Post, 18.4.2000, S. 20; N.N., France renews attack on US missile defence plan, Reuters, 26.4.2000
(16) Joergen Dragsdahl, Danish Opposition May Impede US National Missile Defense, BASIC, London/Washington, März 2000, http://www.nyu.edu/globalbeat/usdefense/BASIC0300.html
(17) Inge Sellevag, Vardo exposed, The Bulletin of the Atomic Scientists, März/April 2000, S. 26-29
(18) President of the Russian Federation, Federal Law On Ratification of the Treaty between the Russian Federation and the USA on Further Reduction and Limitation of Strategic Offensive Arms, PIR - Center for Policy Studies in Russia, Arms Control Letters, Issue 2, 14.4.2000, http://www.pircenter.org
(19) Während der US-Kongreß eine Ratifizierung des CTBT-Abkommens verweigerte, um keine Beschränkungen bei der Entwicklung neuer Nuklearwaffen einzugehen, trat Rußland durch einen Beschluß der Duma vom 21.4.2000 dem Abkommen bei. Die russische Ratifizierung des START II- und des CTBT-Abkommens wenige Tage vor Beginn der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag in New York wurde von Beobachtern als "charming offensive" eingestuft. Pavel Felgenhauer, Kremlin Charm Offensive, Moscow Times, 20.4.2000
(20) Erst am 6.4.2000 haben die US-Streitkräfte auf dem Atomtestgelände von Nevada den Test "Oboe 4" durchgeführt. Charles F. Hilfenhaus, Oboe 4 Subcritical, 6.4.2000, Alliance of Atomic Veterans, E-mail chilfenhaus@juno.com
(21) Igor Kudrik, Typhoons To Remain in Service, zit. n. RANSAC, Nuclear News, 19.1.2000
(22) Steven Mufson, U.S. Seeks Flexibility by Russian on ABM Treaty, International Herald Tribune, 29.1.2000
(23) Jonathan S. Landay, Russia's Missile Warning System Is Decaying, U.S. says, Miami Herald, 9.1.2000. Um die Russen für eine Änderung des ABM-Vertrages zu gewinnen, bot die US-Regierung sogar an, auf eigene Kosten die verrottete, russische Frühwarnradaranlage in Krasnoyarsk zu modernisieren. Die Russen mußten die Anlage Mitte der achtziger Jahre schließen, weil die Amerikaner in dem System einen Verstoß gegen den ABM-Vertrag sahen.
(24) Greg Milo, That Old Designing Fever, Bulletin of the Atomic Scientists, Januar/Februar 2000, S. 51-57, http://www.bullatomsci.org/issues/20000/jf00/jf00mello.html
(25) Walter Pincus, Arsenal Cuts Don't Cover U.S.'s 12,000 Nuclear Triggers, Washington Post, 16.4.2000, S. A06
(26) William J. Broad, U.S.-Russian Talks Revive Old Debates on Nuclear Warnings, New York Times, 1.5.2000
(27) Joint Chiefs of Staff, Doctrine for Joint Theater Nuclear Operations, JP 3-12-1, Washington, 9. Februar 1996, S. III-8
 

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