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Ausgabe 12/00   Seite 55ff

"Diplomatie zuerst!" fordert das Memorandum, daß die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler/VDW e.V. am 16. November in einem öffentlichen Fachgespräch in Berlin vorstellte. Es geht um die "Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA", namentlich um die "Ballistic Missile Defense/BMD"-Forschungsprogramme, die drohen, den ABM-Vertrag von 1972 auszuhebeln und zu einer neuen Runde internationalen Wettrüstens zu führen. Das who's who der deutschen Friedensforschung gab sich auf der Konferenz in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften die Hand.(1)

Ballistic Missile Defense: Diplomatie zuerst - und dann?

Im Zentrum der Befürchtungen der deutschen FriedensforscherInnen stehen die enormen amerikanischen Anstrengungen, nach der gescheiterten Strategic Defense Initiative/SDI ein technisch weniger anspruchsvolles National Missile Defense/NMD-Programm(2) umzusetzen, mit dem sich die USA gegen die nuklearen Restbestände Rußlands, aber auch gegen interkontinentale Newcomer wie China, Indien und Pakistan - und nicht zuletzt sog. "Schurkenstaaten" ("Rogue-States", neuerdings "States of Concern")(3) wie Nordkorea oder Iran schützen wollen. Verschiedene Raketenabwehrmodelle werden hierzu entwickelt, zunächst bodengestützte Abfangsysteme für Alaska, aber auch Anti-Ballistic-Missile/ABM-Systeme in anderen US-Bundesstaaten. Anspruchsvoller sind die Varianten von seegestützten Raketenplattformen, flugzeuggestützten Laserkanonen, und schließlich von kinetischen Raketen auf "Killersatelliten". Damit würde der ABM-Vertrag, der den USA und Rußland lediglich je 100 Abfangsysteme erlaubt, ebenso zerstört(4) wie der Weltraumvertrag, der die Orbitalstationierung von Waffen verbietet. Beide US-Präsidentschaftskandidaten haben die Fortsetzung von BMD/NMD in unterschiedlichem Umfang angekündigt. Ein Beharren auf dem ABM-Vertrag von Seiten der Friedensforschung ist damit nur ein halbherziger Schritt zur Eindämmung weiterer Aufrüstung, ein Schritt zur Abrüstung der nuklearen Kalten Kriegs-Potentiale ist es nicht.

Systemwidersprüche

Mit ihren sicherheitspolitischen Begründungen haben diese Milliardenprogramme wenig gemein. Eine ernsthafte Gefahr geht von den genannten "Bedrohungen" nicht aus und selbst wenn, würde BMD nicht vor einer nordkoreanischen Rakete schützen. Denn das Preis-Leistungs-Verhältnis der amerikanischen Entwicklungen ist miserabel, bisher funktionierten nur wenige Schönwettertests. Im Übrigen wäre es für einen Gegner nur ein geringer Aufwand, die Systeme durch Täuschkörper oder die simple Zerstörung geostationärer Satelliten zu überwinden, wie Götz Neuneck/IFSH überzeugend erläuterte. Gegen oft beschworene terroristische Akte vom Gebiet der USA wäre BMD ebenfalls wirkungslos. Rußland verzichtet - jedoch vorwiegend aus finanziellen Gründen - auf umfangreiche Gegenrüstungen und bietet stattdessen eine weitere Abrüstung der Raketenpotentiale an.

Business as usual oder Kalte Krieger?

Also "was steckt dahinter?" wollte Hans-Peter Dürr/Max-Planck-Institut, München, erhellen. Leider verirrte er sich in SDI-Analogien gegenseitiger Abschreckung und beantwortete seine Vortragsfrage nicht. Dabei ist unschwer zu erkennen, daß BMD - wie SDI - ein Technologieprogramm ist, das Kapazitäten und Systemtechnologie mit neuen Begründungen erhalten soll, für die kein sicherheitspolitischer Bedarf existiert. Entsprechend findet mit keinem Staat ein befürchteter Rüstungswettlauf statt. Die europäische Rüstungsindustrie betrachtet BMD allerdings sorgenvoll, weil sie den USA zu einem uneinholbaren technologischen Vorsprung in Raketentechnologie und Sensorik verhelfen könnte. Dennoch erläuterte auch Jürgen Scheffran/IANUS einen möglichen "Ausbau des internationalen Kontrollsystems im Bereich Weltraum und Raketen" mit Aktions-Reaktions-Modellen, die an den Kalten Krieg erinnerten. Daß die von Bernd Kubbig/HSFK demgegenüber geforderte Initiative "Diplomatie zuerst", also ein aktiv eingeforderter Mediationsbeitrag der Bundesregierung mit den amerikanischen Verbündeten, aber auch mit den "States of Concern" wenig originell klingt, entwertet ihn nicht. Allerdings überraschte in der anschießenden Diskussion der FriedensforscherInnen, wie wenig Einigkeit über die künftigen Formen der Proliferationskontrolle herrschte. Da war die Rede von längst vergangen geglaubter Abschreckung und Gleichgewicht, von offensiven und defensiven Waffen, die einen sahen eine amerikanische Hauptbedrohung nach wie vor in Rußland, andere hielten dies für erledigt und blickten nach China und Nordkorea - altvertrautes Erbsenzählen aus Zeiten des Kalten Krieges. Die zentrale Frage nach der inneramerikanischen Rüstungsdynamik wurde nicht gestellt.

Friedensforschung als PR-Beratung?

So löblich die VDW-Initiative im Interesse von Rüstungsprävention ist, sie wurde leider zu technokratisch begründet. Es drängt sich sogar der ketzerische Gedanke auf, daß deutsche Friedensforscher gerade an jenen Problemen arbeiten, für die auch die amerikanische Konkurrenz ihre Forschungsgelder erhält. Transatlantischer "Spinn Off": ein ABM-Programm der anderen Art für kritische Geister? Die wissenschaftliche Kritik an den amerikanischen Raketenabwehrplänen bewegt sich durchaus im Rahmen der öffentlich unausgesprochenen rot-grünen Regierungslinie, hinter deren abrüstungsbegründeter NMD-Skepsis eher rüstungsindustrielle Konkurrenzinteressen stehen. Warum interessierten sich die deutschen Friedensforscher nicht auch für deutsche BMD-Bestrebungen wie etwa Patriot PAC3, TLVS und Meads? Bemerkenswert war schließlich, daß nicht ein amerikanischer Wissenschaftler bei dem Fachgespräch vertreten war. Wollen wir hoffen, daß die deutschen Friedensforscher nicht die arglosen Bauern in einem transatlantischen Konkurrenzkampf sind. Hilfreich wäre ihre politische Antwort auf die nach wie vor offene Proliferationsfrage: Diplomatie zuerst - und dann? sg

Anmerkungen:  
(1) Das Memorandum wird getragen von: VDW, Bonn International Center for Conversion/BICC, Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit/FONAS, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft/FEST, Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung/HSFK, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit, TU Darmstadt/IANUS, und dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg/IFSH.
 
(2) siehe ami 5/00, S. 22ff.
 
(3) siehe ami 2/99, S. 22ff.
 
(4) siehe ami 3/99, S. 5ff.
 

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