|
|
Der Rückzug der jugoslawischen Armee, der serbischen Polizeikräfte und Paramilitärs aus dem Kosovo wurde nach Ansicht der deutschen Regierung durch eine "Doppelstrategie" erreicht - einer Intensivierung der Bombardierungen Jugoslawiens bei gleichzeitiger Fortsetzung der Verhandlungen. Gerade letztere konnte wahrscheinlich nur Erfolg haben, weil an ihnen Rußland aktiv beteiligt war. Die russische Regierung konnte somit das Ende der NATO-Luftangriffe auch auf den Erfolg ihrer diplomatischen Bemühungen für eine politische Lösung des Konflikts zurückführen. Die US-amerikanische Regierung hingegen sieht vor allem den massiven militärischen Druck auf Jugoslawien als den entscheidenen Faktor für die Zustimmung Slobodan Milosevics zum Rückzug jugoslawischer Truppen aus dem Kosovo.(1)
Heidrun Müller
Die unmittelbaren Reaktionen Rußlands auf den Beginn der NATO-Luftangriffen, die für die russischen Politiker überraschend erfolgten, waren zunächst harsch. Der Sprecher des Kremls ließ verlauten, daß sich die russische Regierung auf Grund dieser Aggression das Recht vorbehält, "adäquate Mittel" zu ergreifen. Unter adäquaten Mitteln verstand der russische Außenminister Igor Iwanow bspw., das Waffenembargo, das die Vereinten Nationen 1993 gegen Jugoslawien verhängt hatten, auszusetzen.(3) Der russische Präsident Jelzin versicherte aber der NATO, keine militärischen Schritte gegen die Luftangriffe zu unternehmen. Trotzdem kündigte die Regierung zunächst an, Kriegsschiffe aus Sewastopol in die Adria zu verlegen.(4)
Im Fall des Kosovo-Konfliktes fühlte sich die russische Regierung erneut gedemütigt. Denn die NATO hatte noch nie so offen Zuständigkeiten außerhalb ihres Territoriums reklamiert. Russische Politiker sahen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, die im Verlaufe der Debatte um die Osterweiterung vorgebracht worden waren.(8) "Die Bombardierung Jugoslawiens weckt [zudem] alte Einkreisungsängste der Russen."(9) Die Luftangriffe stellten den Beginn einer ausgreifenden NATO-Strategie dar, mit der unter der Führung der USA und ohne Rücksicht auf die Vereinten Nationen eine neue interventionistische Rolle für die Allianz nach dem Ende des Kalten Krieges bestimmt werden soll. Diesem neuen Selbstverständnis der NATO wurde mit der Verabschiedung des neuen strategischen Konzeptes auf dem NATO-Gipfel in Washington am 23./24.4.99 Rechnung getragen.(10)
Von nationalistischen und kommunistischen Politikern, die eine offene Unterstützung für Jugoslawien forderten, wird immer wieder die slawisch-orthodoxe Verbundenheit zwischen dem serbischen und russischen Volk beschworen. Diese führen sie u.a. auf den Anspruch der russischen Zaren Mitte des letzten Jahrhunderts zurück, Schutzherr der slawischen, christlich-orthodoxen Balkanvölker gegen die Herrschaft des türkisch-islamisch geprägten Osmanischen Reiches zu sein. Aus dieser Unterstützung leiteten die Serben schließlich die Berechtigung für ihre Vormacht gegenüber anderen Völkern der Region ab.(15) So wird die Rolle Serbiens in der Region, insbesondere innerhalb des ehemaligen Jugoslawiens, gleichgesetzt mit der hegemonialen Stellung Rußlands innerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).(16)
Nach diesem Versuch ernannte der russische Präsident Boris Jelzin den früheren Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin am 14.4.99 zum Sondervermittler für Jugoslawien.(20) Die Ernennung Tschernomyrdins war sowohl ein Signal nach innen als auch an die Adresse der NATO-Staaten. Zum einen konnte sich der russische Präsident dem wachsenden innenpolitischen Einfluß des Ministerpräsidenten Primakow und seiner Regierung entgegenstemmen, indem er alle Kompetenzen bezüglich des Kosovo auf den Sondervermittler Tschernomyrdin übertrug.(21) Zum anderen übernahm Tschernomyrdin die Rolle des internationalen Mediators.(22) Diese Rolle erlaubte es der russischen Regierung als ehemalige Hegemonialmacht in Mittel- und Osteuropa "jene Sonderrolle zu spielen, in der [sie] sich so gerne sieht."(23) und gleichzeitig zu signalisieren, daß der russische Präsident gute Beziehungen zu den NATO-Staaten erhalten möchte.
Ausgeklammert - und bis heute ungeklärt - blieb die Rolle Rußlands in Hinsicht auf die Aufgaben und organisatorische Eingliederung in die Kosovo Force (KFOR). Greifbar wurde dieser schwelende Konflikt, als rund 200 russische Fallschirmjäger des russischen SFOR-Kontingents in einer Nacht-und-Nebel-Aktion am 12.6., wenige Stunden vor Einmarsch der NATO-Kontingente, den Flughafen von Pristina besetzten.(25) Der russische Präsident Jelzin betonte daraufhin, daß er es nicht mehr zulassen werde, daß Rußland, wie zum Beginn des Kosovo-Konfliktes, übergangen wird. Rußland bestand auch zunächst auf einem eigenen russischen Sektor im Kosovo. Darauf wollten sich die Regierungschefs der NATO-Staaten jedoch nicht einlassen, weil sie befürchteten, daß das zu einer faktischen Teilung des Kosovo führen könnte. Ähnlich wie bei der SFOR-Truppe in Bosnien zeichnet sich ab, daß die russischen Truppen nicht der NATO direkt unterstellt werden, sondern formal unter Oberbefehl anderer Staaten stehen, in der Praxis jedoch einen Sonderstatus wahrnehmen.(26) Die UCK wiederum kündigte an, daß "sie die Sicherheit der russischen Truppen nicht garantieren" könne.(27)
Der Kosovo-Konflikt machte andererseits die außenpolitische Schwäche Rußland mehr als deutlich. Die ehemalige Supermacht hatte nicht viel in die Waagschale zu werfen, um der NATO-Offensive Paroli zu bieten. Das Drohpotential Moskaus, das v.a. aus seiner atomaren Kapazität zu bestehen scheint, beindruckte die NATO-Bellizisten wenig. Dennoch erkannte die NATO, daß Rußland durchaus als dienlicher Akteur instrumentalisierbar ist, um aus der Sackgasse einer militärischen Eskalation einen ohne großen Gesichtsverlust zu entkommen. Interessant ist auch die Beobahtung, daß "sobald Russen, Amerikaner und Europäer eine Sprache sprechen, [...] der Manövrierraum von Milosevic eng" wurde.(29)
Anmerkungen:
(1) Vgl.: Tagesspiegel (Tsp.), 5.6.99
(2) Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), 24.3.99, in: http://www.rferl.org
(3) RFE/RL, 25.3.99, in: http://www.rferl.org
(4) RFE/RL, 1.4.99, in: http://www.rferl.org
(5) Vgl.: Alamir, Fouzieh Melanie: NATO-Öffnung und die Probleme danach, in: Europäische Sicherheit 6/99, S. 49
(6) Vgl.: BIOst (Hrsg.): Der Osten Europas im Prozeß der Differenzierung, München/Wien 1997, S. 361 ff.
(7) Tsp., 21.6.99
(8) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 28.6.99
(9) Die Zeit, 6.5.99
(10) Ebd.; zum neuen strategischen Konzept der NATO vgl.: ami 6/99, S.29-35
(11) FAZ, 28.6.99
(12) Die Zeit, 6.5.99
(13) Diese Union wurde im Mai letzten Jahres in einem Vertrag zwischen WeißRußland und Rußland vereinbart. Geplant war, noch in der ersten Hälfte des Jahres 1999 einen Einigungsvertrag zu vereinbaren. Bürger beider Staaten verfügen über die gleichen Rechte, ebenso jeweils über das aktive und passive Wahlrecht im anderen Staat. Vgl.: Tsp, 27.12.98
(14) FAZ, 13.4.99
(15) Vgl.: Hoppe, Hans-Joachim: Moskau und die Konflikte im früheren Jugoslawien in: Außenpolitik 3/97, S. 267
(16) Vgl.: Alexandrova, Olga: Rußland und die Jugoslawien-Krise, in: Europäische Sicherheit 12/92, S. 662; dieselbe: Rußland und sein Nahes Ausland, in: BIOst (Hrsg.): Zwischen Krise und Konsolidierung, München/Wien 1995, S. 325
(17) RFE/RL, 30.3.99, in: http://www.rferl.org
(18) Süddeutsche Zeitung (SZ), 3.-5.4.99
(19) RFE/RL, 14.5.99, in: http://www.rferl.org
(20) Aus seiner Zeit als Ministerpräsident 1992-1995 hat Tschernomyrdin gute Beziehungen zu zahlreichen westlichen Politikern und ist prowestlich eingestellt. Der Schwerpunkt seiner Politik ist der Aufbau guter wirtschaftlicher Beziehungen zum Westen. Er sitzt im Vorstand der Gazprom, die zwei Drittel der Gasvorräte der Erde kontrolliert. Seit dem Bau der Pipeline "Druschba" in den achtziger Jahren kennt er Milosevic. Vgl.: Berliner Zeitung, 8./9.5.99
(21) Boston Globe, 21.4.99, in: http://www.rferl.org
(22) New York Times, 21.4.99, in: http://www.rferl.org
(23) FAZ, 28.6.99
(24) Tsp., 9.6.99
(25) Frankfurter Rundschau, 14.6.99
(26) Tsp., 20.6.99
(27) Tsp., 14.6.99
(28) FAZ, 28.6.99
(29) Die Zeit, 10.6.99